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Die Insel Albatros

Zu einer sitzenden Gruppe Menschen treten schweigend ein Mann und eine Frau mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Die Frau geht barfuß mit einem deutlichen Abstand hinter dem Mann und trägt eine Schale Rosinen.

Das Paar verharrt kurz im Kreis und betrachtet die Gruppe freundlich.

Beide gehen dann der Reihe nach auf die einzelnen Gruppenmitglieder zu. Die übereinander geschlagene Beine der Personen werden sanft aber bestimmt auf den Boden gestellt. Bei denjenigen, welche die Beine erneut übereinander schlagen auch mehrmals. Dabei berührt die Frau nur Frauen und der Mann nur männliche Personen.

Zudem bedeuten die beiden den Frauen ihre Schuhe auszuziehen.

Anschließend setzt sich der Mann auf einen freistehenden Stuhl, die Frau kniet sich auf den Boden neben ihn. Die Frau nimmt die Schale mit den Rosinen auf. Der Mann nimmt sie ihr aus der Hand bevor sie eine Rosine essen kann und isst selbst mit demonstrativen Kaubewegungen einige Rosinen. Danach übergibt er der Frau die Schale, die nun auch einige Rosinen isst und die Schale dann beiseite stellt.

Nach der Nahrungsaufnahme legt der Mann seine Hand auf die Schulter der Frau, die sich dreimal dicht zum Boden hin beugt. Danach erhebt sich das Paar und schreitet noch einmal die Runde der Teilnehmenden ab, wobei die Frau wieder dem Mann folgt. Der Mann teilt nun jede Frau im Raum einem Mann zu und bedeutet der Frau sich auf den Boden zu knien. Im Anschluss übergibt die Frau jeder Frau einige Rosinen.

Schließlich sollen die Männer ihre Hand in den Nacken der Frau legen und diese soll mit Ihrer Stirn den Boden berühren... Im Anschluss muss jede Frau "ihrem Mann" einige Rosinen geben.

 

 

Eine ziemlich komische Situation findet ihr nicht?

Und wahrscheinlich habt ihr schon eine ziemlich starke Meinung zu der Situation. Für euch ist wahrscheinlich jetzt schon klar, der Mann unterdrückt seine Frau...

Die Frau darf keine Entscheidungen für sich selbst treffen, muss sich an die Anweisungen ihres Mannes halten. Wahrscheinlich habt ihr die Situation längst mit euch selbst verglichen und euch gedacht "So etwas würde ich mir nie gefallen lassen!".

 

Wie ihr vielleicht merkt, bewertet man das Verhalten der Fremden ziemlich schnell, ohne zu wissen, warum sie sich so verhalten. Aus unserer deutschen Sicht, bewerten wir die Frau als unterdrückt und die Machtverhältnisse wahrscheinlich als veraltet.

 

Und so habe auch ich reagiert, als diese "zwei Fremden" unsere Freiwilligen Gruppe auf einem Vorbereitungsseminar besucht haben...
Zum Thema interkulturelles Lernen, bekamen wir nämlich Besuch von der Insel Albatros und wenn ich euch jetzt den kulturellen Hintergrund unserer Gäste verrate, seht ihr die Situation höchstwahrscheinlich aus einem ganz neuen Blickwinkel.

 

Die Albatros-Kultur ist eine matriarchalische Kultur, in der die Erde als Muttergottheit verehrt wird. Große Füße sind ein Schönheitsideal, denn sie ermöglichen einen guten Kontakt zur Erde, allerdings dürfen nur die Frauen direkten Kontakt zur Göttin aufnehmen und die Erde mit ihren bloßen Füßen berühren. Die Kraft der Muttergottheit kann durch den Verzehr von Rosinen erschlossen werden. Sie sind eine rituelle Speise. Gästen wird besondere Ehrerbietung erwiesen, indem ihren Füßen möglichst viel Bodenkontakt gegeben wird.

Da Frauen ebenso wie die Mutter Erde Leben hervorbringen können, haben sie besondere Privilegien. Männer haben die Pflicht, Speisen der Frauen vorzukosten und vor ihnen her zu gehen, um Gefahren abzuwenden. Frauen dürfen auf dem Boden sitzen, wahrend Männern unbequeme Sitzgestelle, genannt Stühle, zur Verfügung stehen, die sie in Distanz zur Muttergottheit halten. Für ihre Dienste werden Männer belohnt, indem sie Frauen die Hand auf den Rücken legen dürfen. Diese neigen sich dann der Gottheit zu, nehmen Energie auf und leiten sie durch ihren Körper an den Mann weiter. Ansonsten ist es Männern nicht gestattet, Frauen ohne deren Aufforderung zu berühren.

Und was denkt ihr jetzt?

Auf einmal bekommt das Handeln der Fremden eine völlig neue Bedeutung und die Rolle der Frau wird ganz anders bewertet.

 

Wir als Freiwillige haben in dieser Situation ziemlich schnell gemerkt, was es heißt eine Situation ohne Hintergrundwissen zu beurteilen und wie schnell es einem dabei passiert etwas vollkommen falsch zu interpretieren.

 

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum ich euch das alles mitteile und zumindestens versuchen wollte, dass ihr die Situation nachempfinden könnt. Aber an dieser Stelle wollte ich euch gerne verdeutlichen, dass mein Blog auf persönlichen Erlebnissen beruht und immer meine eigenen subjektive Wahrnehmung widerspiegelt.

Besonders wenn ich in Ghana bin, werden euch manche Artikel vielleicht suspekt vorkommen. Vielleicht ist die geschilderte Situation für euch, dann vollkommen missverständlich und mit deutschen Moravorstellungen nur schwer nachvollziehbar. Ich hoffe, dass ihr in diesen Situationen, dann vielleicht an die Geschichte zurückdenkt und überlegt, dass es in anderen Kulturen manchmal vollkommen andere Wertvorstellungen gibt und wir ohne Hintergrundwissen eine Situation nicht vollständig bewerten können.

Meine Artikel werden also immer nur einen Teil der Situation zeigen, da sie auf meiner persönlichen Erfahrung beruhen, es wird aber immer auch eine ganz andere Sichtweise auf die Situation geben.

 

Bis demnächst,

Eure Jule

Kommentare: 1 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Sarah Aderhold (Sonntag, 15 Juli 2018 19:02)

    Hallo Jule,

    danke für den Link zu deinem Tagebuch! Das klingt alles total spannend und interessant, ich bin schon gespannt wie es dir in Ghana ergehen wird und wünsche dir für die Zeit dort ganz viel Kraft, Entdeckerfreude und Mut für alles, was dir begegnen wird!
    Toll, dass du das Wagnis eingehst, es wird dein Leben und das vieler anderer dort bestimmt bereichern!

    Ganz liebe Grüße
    Sarah Aderhold